OBST für die PSYCHE – Die Erfindung der Arbeitstherapie am Steinhof, Teil 1

Was in Wahrheit leistet die Anstaltsbehandlung? fragt ein Direktor Dr. Scholz am 17. August 1907 in der „Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift“ gleich auf Seite 1 in seinem Beitrag über „Die Heilungsaussichten in der Irrenanstalt“[1]. Vorneweg: Der Einfluss der Anstaltsbehandlung auf die Heilung ist laut dem Herrn Direktor gleich null.DSC_0562

Denn, „wer eine Manie hat, wird sie wieder los, – das ist die Regel, und für die Heilbarkeit besagt nichts, wo der Patient sein Leiden überwindet, ob mit Stricken gebunden im Spritzenhaus oder im schönen Bett des Irrenhauswachsaals.“[2] Die Tortur-Methoden der Vorgänger (man steckte PatientInnen in Fässer mit lebenden Aalen, brachte sie am Drehbrett beim Versuch die Krankheit wie einen Fremdkörper auf ihnen herauszuschleudern zur Bewusstlosigkeit, traktierte sie mit schmerzenden Wasserkuren[3]) hätten zur Heilung genauso viel und genauso wenig beigetragen wie die moderne Psychiatrie mit ihrer Bettruhe-Behandlung.

Verkauft dieser Herr sein Metier schlecht? Anscheinend. Wobei erwähnt werden muss, dass er hier in erster Linie auf eine Anfrage der deutschen Gesundheitsbehörde reagiert, woher es denn komme, dass in den Anstalten der Provinz so wenig Kranke als heilbar bezeichnet würden. Also stellt Direktor Dr. Scholz wortreich auf drei Seiten klar, was das Irrenhaus seiner Erfahrung und Überzeugung nach gar nicht leisten kann: Heilung. Und was kann es leisten? Pflege. „Sie legt den Ausbrüchen kranker Leidenschaften Zügel an, gibt Trost und Ruhe, beseitig üble Gewohnheiten, erzieht zur Sauberkeit und Sorgfalt und sichert vor Gefahren, vor Mißhandlungen und Spott.“[4]

Drei Wochen darauf, am 7. September 1907 entgegnet in derselben Fachzeitschrift an gleicher Stelle[5] ein Hofrat Dr. Friedländer dem „Herrn Kollegen“ Scholz, dass ihn zunächst ein „schmerzliches Gefühl beschlich“, als er „diesem Zweifel, dieser Resignation eines Psychiaters“ begegnete, er aber auf keinen Fall hinnehmen könne, dass  die gesamte Psychiatrie nur als „die Lehre von guter Pflege und Bewahrung“ aufgefasst werde und die nihilistische Ansicht verbreitet werde, der Titel Heilung am Aushängeschild der Irrenanstalt sei Betrug und würde nur in die Irre führen. Also sehr wohl Heilung, verteidigt Dr. Friedländer das Irrenhaus als medizinische Einrichtung, schon die Bettruhe sei kein Faulenzen, wie von Dr. Scholz behauptet, sondern eine wohltuende „Ruhigstellung des erkrankten Organsimus“. Und genauso die Bäderbehandlung kein Faulenzen, sondern schon Therapie, Beruhigung und Heilung erzielend.DSC_0523

Zudem, so Friedländer am Höhepunkt seiner Argumente, werde der selbstmordgefährdete Melancholiker in der Anstalt vor dem Selbstmord bewahrt. „Er wäre (vielleicht) auch außerhalb der Anstalt genesen – aber der Selbstmord hätte der Genesung vorgegriffen. Ist das n u r Pflege?“[6] fragt der Verteidiger des Irrenarzt-Ethos und spricht zwei Absätze weiter den kritisierten Kollegen in der etwas herabwürdigenden Form der dritten Person an: „Aber eine Frage möchte ich an ihn richten. Was hält er von der Arbeitstherapie und von der psychischen Behandlung, die er mit keinem Worte erwähnt?“ Und fügt hinzu: „Wenn auch diese nur besserer Pflegedienst sind, dann strecke ich die Waffen.“ Und stellt gegen Ende der Entgegnung noch einmal klar, dass es hier um die Ehre eines Berufsstandes geht: „Ich wenigstens sehe in bloßem Pflegedienst für den Arzt keine ‚genügend hohe Aufgabe‘“.

Die Betonung der ärztlichen Ehre ist vonnöten, da der Anschluss der Psychiatrie an die damals so erfolgreiche Medizin relativ neu ist. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert konnte es noch durchaus sein, dass ein Lehrer, ein Philosoph, ein Jurist oder ein Kaufmann ein Irrenhaus leitete. Auch die Behandlungsmethoden änderten sich mit dem neuen Selbstverständnis fundamental. Von den „terroristischen“ Methoden[7], mit denen man widerspenstige Irre zur Vernunft hinquälen wollte, wechselte man zur Bettruhe für Patientinnen und Patienten, für deren Krankheit man nun vermehrt körperliche Ursachen vermutete, auch wenn man deren Entdeckung erst von künftigen Generationen erwartete.

Eine Folge dieser Bettbehandlung war jedoch die Hospitalisierung. Und so wird „aus der therapeutischen Begeisterung der moralisch-pädagogischen Ära der Anfangszeit“‚ ein „therapeutischer Nihilismus‘“, schreibt Klaus Dörner. „Die Aufenthaltsdauer in den Anstalten steigt rapide an.“ Vor diesem Hintergrund ist die zunehmend positiv beurteilte Arbeitstherapie, um die es in diesem Kapitel hauptsächlich gehen soll, auch ein wenig als notwendige Systemreparatur zu sehen.DSC_0513

Drei weitere Wochen nach dem Disput zwischen den Herren Scholz und Friedländer, am 28. September 1907, erscheint  die „Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ als 40seitige Doppelnummer, als eine sogenannte „Festnummer“ mit nur einem einzigen Thema: Die Eröffnung der niederösterreichischen Landes-Heil- und Pflege-Anstalten für Geistes- und Nervenkranke ‘am Steinhof‘ in Wien XIII“, der zu diesem Zeitpunkt größten und modernsten Irrenanstalt in Europa. Der dreiseitige Einleitungstext ist eine einzige Lobeshymne auf diese „in reizender landschaftlicher Umgebung“ gelegene „Bergstadt“ mit ihren  60 zwischen neu angelegten Gärten stehenden Häusern. „Das Beste ist gerade gut genug für die unglücklichen Geisteskranken“ laute das gesellschaftliche Motto, das sich hier auf würdige Weise realisiere. Denn: „Wie gute Eltern stets das schwächlichste und kränkste ihrer Kinder mit doppelter Liebe zu umgeben pflegen, so schenkt die gesittete Menschheit ein besonderes Maß von Mitleid und Fürsorge ihnen, die alles dessen beraubt sind, was als unser höchster Besitz gilt, der Vernunft und Willensfreiheit.“[8] Lobenswert findet der Autor dieses Beitrags auch die bisher noch nirgends durchgeführte Idee, ein komfortables Sanatorium für begüterte Gemüts- und Geisteskranke, also in heutiger Wirtschaftssprache eine „Cashcow“, in die öffentliche Anstalt zu integrieren. Dieses Grandhotel für psychisch Kranke – mit Palmen, Kegelbahn, Schwimmbecken, Schlittschuhbahn und Tennisplatz – wurde dann 1923 in eine Lungenheilanstalt umgewandelt, da die zahlungskräftigen PatientInnen im Ersten Weltkrieg und den Jahren danach ausblieben.

Alle weiteren Beiträge stammen dann von den Wiener Protagonisten selbst, sie behandeln detailreich die Geschichte der Irrenpflege in Niederösterreich und Wien und erläutern den Bau und die Organisation der neuen für 2.200 Patienten und Patientinnen geplanten Anstalten „am Steinhof“. In einem Beitrag zur Administration erfährt man nicht nur von der aufwändigen Infrastruktur mit Selcherei, Wäscherei, Großküche, Postamt, Tierstallungen, diversen Werkstätten (auch zur Beschäftigung der Pfleglinge), Müllverbrennungsanlage und einer elektrischen Zubringerbahn (die gab es noch bis 1964), sondern auch von der großen Rolle, welche die gärtnerische Gestaltung des Musterinstituts einnahm.DSC_0542

Die nicht von allen erwünschte Einmischung des Architekten Otto Wagner in die Planungsphase (er nützte die Einladung zum Kirchenentwurf, um sich mit einem „Situationsplan über die Hauptdisposition sämtlicher Bauwerke“ die Gesamtkonzeption unter den Nagel zu reißen) führte laut Maria Auböck zu einer Änderung der Anlage von einem romantischen englischen Park in eine „barockisierende Architekturlandschaft“[9]. Aus der wie zufällig in die Natur gebetteten Anlage wird eine streng durchkomponierte Anstalt, schreibt der Psychoanalytiker Harald Leupold-Löwental in seiner Biografie. Eine Entwicklung hin zu mehr Kontrolle. Zitat: „Ein System der Über- und Unterordnung entsteht in und mit Wagners Entwurf. Den Planbevollmächtigten muss die Wagnersche Lösung sehr entgegen gekommen sein: die ihr immanente Herrschaft und Beherrschung versinnbildlicht ja gleichsam die Wunschvorstellung, der Geisteskrankheit – wie jeder anderen Krankheit – Herr werden zu können.“[10]

Was nichts daran änderte, dass die großen gärtnerischen Anlagen, in denen sich die Patienten möglichst frei bewegen sollten, als ein wichtiger Teil des therapeutischen Konzepts vorgesehen waren. Den gefängnisähnlichen Irrenhäusern der Vergangenheit setzte man ein Konzept der „offenen Türen“ und weitläufigen Gärten entgegen. „Zur Beherbergung und Kultur der Palmen und anderer Dekorationspflanzen sind vier Gewächshäuser je 20 Meter lang und fünf beziehungsweise acht Meter breit, vorhanden“, heißt es in der Festnummer der „Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“. Denn die Anstalten sollen „in reichster Weise auch im Innern der Pavillons mit Pflanzen und Blumenschmuck versehen werden“[11] – allein dafür rechnet man jährlich eine halbe Million Pflanzen heranzuziehen.

Im gesamten 144 Hektar großen Areal wurden nach Errichtung der Anlage rund 300.000 Bäume, Sträucher und blühende Pflanzen gesetzt.[12] Es gab Einzelgärten rund um die Pavillons, parkartige Grünanlagen und eine streifenförmige Anbaufläche für Gemüse und eine Obstplantage nördlich der Pavillons. Letztere anfangs mit 600 Obstbäumen bestückt, Kirschen-, Pflaumen-, Marillen- und Pfirsichbäumen (35 Jahre später ist bereits von 3.600 Obstbäumen die Rede). Denn es ist geplant, „den Bedarf der Anstaltsküche an Obst, groben Gemüse, Kohl, Kartoffeln, Rüben, Kraut, Viehfutter, kurz an allen Naturalien beziehungsweise Zerealien nach Möglichkeit durch die Erträgnisse der eigenen Wirtschaft zu decken“[13]. Es gibt zudem eine „Spargelzucht im größeren Stile“, einen Weingarten zur Gewinnung von „Tafel- und Einsiedeobst“ und eine Forellenzucht.DSC_0554

Zum Schluss dieser Auflistungen heißt es schließlich: „Ein solch rationeller Betrieb der Gärtnerei und Landwirtschaft wird nicht nur die Erträgnisse der Anstalten in ganz erheblicher Weise vermehren und dadurch das Budget entlasten, er wird zum Hauptzwecke haben, das Los der Kranken durch den Segen der Arbeit zu verschönern und den Ernst ihres Aufenthaltes zu mildern, wenn nicht zu verwischen“[14].

Inwieweit hier im Eröffnungsjahr die Mitarbeit der Patientinnen und Patienten wirklich als ein therapeutisches Anliegen im Vordergrund stand oder nur schön geredet wurde, steht dahin. Jedenfalls waren im Rahmen der Arbeitstherapie mehrere Hundert Personen tätig, zum Beispiel im Obst- und Gemüsebau, in der Nähstube, welche die Anstaltskleidung ausbesserte,  oder in der Kanzlei (in der nur der Leiter kein Patient war).[15]

Die Arbeitstherapie ist mehr als ein „besserer Pflegedienst“, stellte Dr. Friedländer 1907 in dem oben erwähnten Disput fest. Der Begriff Arbeitstherapie ist zu diesem Zeitpunkt noch relativ neu, die Sache selbst nicht: Bereits hundert Jahre zuvor, Anfang des 19. Jahrhunderts, setzten sich der französische Psychiater Philippe Pinel und sein Schüler Jean-Ètienne Esquirol für eine „menschengerechte“ Irrenbehandlung im allgemeinen und eine „Beschäftigungsbehandlung“ im Besonderen ein.[16] (Kurze Anmerkung zu ihrem Verständnis von „menschengerecht“: Drehstuhl und Hungerkuren galten als „notwendige Erschütterung der Seele“ und als „Ablenkung von fixen Ideen“, kurzum noch als human).

In Deutschland und Österreich wurden diese Ideen aufgegriffen und Reformen der „Irrenbehandlung“ gefordert. Wobei dafür geeignete Anstalten „Ackerbau, Viehzucht und Gärtnerei“ beinhalten müssten. Ein Dutzend von deutschen Irrenanstalten besaß Mitte des 19. Jahrhunderts zentral gelegene Ökonomien zur Selbstversorgung und Beschäftigung, andere legten sich sogenannte „agricole Kolonien“ zu, die einige Kilometer von den Mutteranstalten entfernt lagen.[17] Die Arbeit mit Pflanzen und Tieren als Heilmittel wurde nach ärztlicher Indikation individuell verordnet. Die meisten Anstalten lagen im ländlichen Raum, da die Städte als Teil der Krankheitsursache für die sogenannten nervlichen Erkrankungen galten. [18]

Auch nach der Eröffnung von Steinhof bleibt die „Arbeitstherapie“ in der „Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift“ ein beliebtes Streitthema. In einer Ausgabe verteidigt ein Christoph Schwarz, der technische Leiter eines deutschen Sanatoriums, die „heilsame Betätigung in Werkstatt und Garten“ gegen den Vorwurf, hier werde eine Umformung der Sanatorien zu „Arbeitshäusern“ angestrebt: „Es ist nicht wahr“, schreibt er, „dass wir das Heilmittel kurzweg in der nützlichen Muskelarbeit sehen, … Wir sehen das Heilmittel in der Regelung der Tätigkeit.“ [19] Weiters nimmt er zum Vorschlag eines Kollegen Stellung, der meint, besser als in Sanatorien sei die Bereitstellung  körperlicher Arbeitsgelegenheiten in den Städten: „Die sollten die nervös gewordenen Kopfarbeiter neben und nach ihrer täglichen Berufsarbeit aufsuchen und als eine Quelle der Regeneration benutzen.“ (Eine Vorwegnahme von Fitnesscentern und Gemeinschaftsgärten?) Schwarz widerspricht dieser Auffassung, „denn sie übersieht die so wichtige und nötige Ausschaltung falscher Tätigkeit, wie sie in den meisten Fällen der Beruf und die Familie mit sich bringt.“[20]

Wie es mit der Arbeitstherapie am Steinhof weiterging, dazu mehr im 2. Teil …

Text&Fotos: Peter A. KrobathDSC_0151

[1] Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift, Nr. 21, Halle a. S. 1907, S. 165

[2] Ebenda S. 166

[3] Dörner, Klaus; Irren ist menschlich, Bonn 1984, S. 468

[4] Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift, Nr. 21, Halle a. S. 1907, S. 165

[5]ebenda, S. 189

[6]ebenda, S. 190

[7] Dörner, Klaus, Irren ist menschlich, Bonn 1984, S. 469

[8] Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift, Nr. 27/28, Halle a. S. 1907, S. 213

[9] Auböck, Maria und Mörtel, Ute; Das Otto-Wagner-Spital in Wien und seine Gärten, in: (Hg) Gabriel, Eberhard und Gamper, Martina: Psychiatrische Institutionen in Österreich um 1900, Wien 2009, S. 49

[10] Leupold-Löwenthal, Harald, Ein unmöglicher Beruf: über die schöne Kunst, ein Analytiker zu sein, Wien 1997, S. 178

[11] Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift, Nr. 27/28, Halle a. S. 1907,  S. 248

[12] Auböck et al. S. 52

[13] Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift, Nr. 27/28, Halle a. S. 1907, S. 248

[14] Ebenda S. 248

[15] Gabriel, Eberhard; Die Praxis der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof 1907 – 1918; in (Hg) Gabriel, Eberhard und Gamper, Martina: Psychiatrische Institutionen in Österreich um 1900, Wien 2009, S. 67

[16] Mensch und Garten….. S. 76

[17] Callo C. und Hein A., Mensch und Garten, 2004, S. 78 u. 79

[18] http://www.gartentherapie-neuberger.de/deutsch/pdf/Integrative_Gartentherapie-2011-10-02-Bilder-col.pdf S. 3

[19] Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift, Nr. 38, Halle a. S. 1907,  S. 342

Comments
2 Responses to “OBST für die PSYCHE – Die Erfindung der Arbeitstherapie am Steinhof, Teil 1”
Trackbacks
Check out what others are saying...
  1. […] Über die Entstehung der Obstgärten auf den Steinhofgründen als Teil des Konzept einer  Arbeitstherapie: https://stadtfruchtwien.wordpress.com/2015/09/01/obst-fuer-die-psyche-die-erfindung-der-arbeitsthera… […]



Hinterlasse einen Kommentar